Staubig. Irgendwie ist es hier in Jerusalem immer staubig, dachte Samuel. Sogar am frühen Morgen. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen, stellte er mit der ganzen Resignation eines Elfjährigen fest, der seinem alten Wohnort mehr als nur ein bisschen nachtrauerte. Samuels Familie hatte bis vor zwei Monaten in einem kleinen Dorf am Meer gewohnt. Da wehte immer eine frische Brise, dachte der Kleine sehnsüchtig. Aber nach dem Tod seines Onkels waren sie lieber in die Hauptstadt gezogen, wo sein Vater das Töpfergeschäft seines verstorbenen Bruders übernommen hatte. Immerhin hatte Samuel schon einen Freund in Jerusalem gefunden, wenn man den dicken Moshe so nennen konnte, der ihn immer Fischkopf nannte und jede Gelegenheit nutzte, seinem neuen Kumpel gegenüber den Mann von Welt hervorzukehren. Aber diesmal hatte Moshe rechtbehalten. Hier ging wirklich etwas vor. Die beiden Jungen standen draußen auf dem Platz vor dem Palast des römischen Statthalters, und vor ihnen hatte sich schon eine immer größer werdende Menschenmenge versammelt. Ganz vorn standen einige würdige ältere Männer in langen Gewändern. War das nicht Kaiphas,der Hohepriester? Während sich die Jungen durch die Menge drängten, flüsterte Moshe aufgeregt: "Ich hab gehört,es geht um Jesus, diesen Rabbi aus Nazareth. Sie wollen ihm den Prozess machen." Jesus selbst sah Salomo nicht. Der war wohl im Palast und wurde von Pilatus befragt. Aber der Kleine war ganz vom Anblick der Legionäre gefesselt, die die Treppe zum Prätorium gegenüber der Menge abriegelten. Zwei Reihen eisengepanzerte Römer mit ihren Wurfspießen und rechteckigen Schildern hatten hier Stellung bezogen, weitere säumten die Stufen der breiten Treppe bis zur Eingangshalle des Palastes. Sie standen ganz still, schienen nicht mal zu blinzeln. Samuel war mächtig beeindruckt. Da! Nun brachten Soldaten den Angeklagten vor die Menge. Pilatus in seiner weißen Toga verhandelte von der Treppe mit den jüdischen Würdenträgern. Der Hohepriester sah wütend aus, und überall in der Menge erhob sich Murren und Geschrei. Eine Frau rief: "Kreuzige ihn!"und bald fielen hunderte von Stimmen ein. "Pilatus will ihn wohl freilassen!", meinte Moshe, und Samuel erinnerte sich, mit wieviel Achtung sein Vater von diesem Rabbi Jesus gesprochen hatte. Der Mann war kein Verbrecher. Aber die Wut der Menge verfehlte nicht ihre Wirkung auf Pilatus. Er ließ den Angeklagten wieder abführen und blieb für eine Weile verschwunden. Währenddessen strömten immer mehr Menschen auf den Platz, und von der Menge schien eine Spannung auszugehen, die die Wachsoldaten ihre Schilder fester fassen ließ. Dann trat Pilatus mit Jesus wieder vor das Volk. Der junge Rabbi war kaum wiederzuerkennen. "Mein Gott,sie haben ihn geißeln lassen!"entfuhr es Moshe. Jesus trug eine Krone aus spitzen Dornen, von denen ihm das Blut in dünnen Rinnsalen das Gesicht hinunter lief. Die Soldaten hatten ihm einen roten Legionärsmantel umgelegt, wie der Krönungsmantel eines Königs, aber er verhinderte nicht, dass die Jungen und dir Menge den Rücken des Angeklagten sehen mussten, eine Masse aus Blut, Hautfetzen und rohem Fleisch. Samuel hörte Pilatus' Worte: "Seht,welch ein Mensch!" Die Menge sah auf den Hohepriester, aber den rührte das grausame Bild nicht zum Mitleid. Bald skandierte das ganze Volk von Neuem: "Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!" Samuel meinte, einen Augenblick ein großes Mitleid in den Augen des Angeklagten zu sehen. Aber das konnte doch nicht sein, oder? Jesus stand ganz still da, wie ein Lamm vor der Schlachtbank. Pilatus versuchte, Jesus aus Anlass des Passahfestes freizulassen, aber die Menge lies es nicht zu. Sie wollten lieber, dass er Barabbas freiließ, einen Räuber. Samuel und Moshe konnten nicht alles hören, was zwischen Pilatus und den religiösen Führern des Volkes gesprochen wurde, aber schließlich setzte sich der Römer resigniert auf seinen Richterstuhl: "Ibis ad crucem!" verkündete er, "Du gehst ans Kreuz!" Bei diesen Worten ließ er sich eine Schale Wasser bringen, als wollte er sich das Blut des Unschuldigen von den Händen waschen. Während die Soldaten Jesus wegbrachten, konnte Samuel nur immer denken: Was haben sie getan?!
Und wir?
Wo spreche ich anderen das Urteil?
Weil sie ganz anders sind als ich - oder vielleicht auch, weil ich an ihnen sehe,was ich an mir selbst am meisten hasse?
Weil sie etwas haben oder sind, was ich selbst gerne hätte oder wäre. Bin ich eifersüchtig - oder hätte ich es nicht viel mehr verdient als dieser arrogante Kerl?
Weil ich ihnen jegliches Niveau abspreche, mich für so viel besser halte. Und wo das nicht geht, suche ich halt nach Sprüngen und Kratzern in ihrer makellosen Fassade...?
Wo spreche ich mir selbst das Urteil?
Weil ich im Vergleich mit anderen oder ihrem Glauben nur resignieren möchte?
Weil es mir immer wieder so schwer fällt, zu vergeben, zu glauben, zu lieben?
Weil es sich anfühlt, als wäre Gott unendlich weit entfernt. Weil es sich anfühlt, als würde Gott nur den anderen Trost und Geborgenheit schenken?
Wo spreche ich Jesus das Urteil?
Weil ich den Richter sehe anstelle des Lamms, das sich für mich hat schlachten lassen. Er verurteilt mich nicht. Er nimmt mein Urteil auf sich?
Weil ich ihm vorschreibe, wie weit seine Gnade reichen kann. Aber sie reicht weiter. Sie reicht für mich. Sie reicht für dich. Seine Gnade ist größer?
Weil ich seine Liebe aus dem Blick verliere. Aber sein liebender Blick bleibt auf mich und dich gerichtet. Er sieht nicht weg. Er hört nicht auf, zu lieben?